Der Fall Relotius
The editor of the Spiegel Weekly, Stefan Cleos Mann and the deputy editor of Dirk Corbiovyt: Commenting on the rejectionist of the classroom, Claas Relotius
Wir haben sehr viele Fragen an uns
selbst
Claas
Relotius hat für den SPIEGEL viele große Reportagen geschrieben, aber leider
enthalten wohl die meisten erfundene Passagen. Es tut uns leid, was passiert
ist - und wir werden den Fall in aller Demut aufarbeiten.
Donnerstag, 20.12.2018
06:42 Uhr
Für uns ist dies Tag 1,
nachdem wir mit dem Fall Relotius an die Öffentlichkeit gegangen sind. Wir
hatten eine Menge Krisensitzungen, einige Pressegespräche, wir haben aufmerksam
die sozialen Netzwerke verfolgt, über Strategien gesprochen. Der Tag ging spät
zu Ende. Heute wird es ähnlich.
Claas Relotius hat sieben Jahre lang für den
SPIEGEL gearbeitet, viele große Reportagen geschrieben, aber leider enthalten wohl die meisten erfundene Passagen. Er schrieb über Leute, die er nicht getroffen oder
sogar erfunden hatte, er beschrieb Szenen, die es so nie gab.
Wir können die ganze Dimension des Falls noch nicht wirklich abschätzen,
haben uns aber trotzdem entschlossen, ihn publik zu machen. Das wollten wir
nicht anderen überlassen. Wir haben begonnen, aufzuklären, und wir werden ein Komitee bilden, das jeden Stein umdrehen soll. Denn
wir wollen wissen, was genau warum passiert ist, damit es nie wieder passieren
kann. Wir haben sehr viele Fragen an uns selbst, und die Antworten werden
wahrscheinlich einiges in unserem Haus verändern.
Es tut uns leid, was passiert ist. Wir haben eine große Leserschaft, die
sich nun fragen kann, ob dem SPIEGEL noch zu trauen ist. Wir haben viele
Mitarbeiter, die sauber und gut arbeiten und die in nächster Zeit damit leben
müssen, unter Generalverdacht zu stehen. Wir müssen unter Beweis stellen, dass
dieser Verdacht unbegründet ist.
Uns ist bewusst, dass der Fall Relotius den Kampf gegen Fake News noch
schwerer macht, für alle: für die anderen Medien, die an unserer Seite stehen,
für die Bürger und Politiker, denen an einem wahren Bild von der Realität
liegt. Auch bei denen möchten wir uns entschuldigen. Aber wir können ihnen
versichern: Wir haben verstanden. Und wir werden alles tun, um aus unseren
Fehlern zu lernen.
Claas Relotius hatte offenbar das Gefühl, unseren Erwartungen nicht gerecht
werden zu können mit guten und sehr guten Geschichten. Sie mussten exzellent
sein. Wir haben ihm diesen Eindruck nie vermittelt, waren aber natürlich stolz
über die enorme Resonanz auf seine Geschichten und über die vielen Preise, die
er gewonnen hat. Ihm machte das Druck, seine Erfolge zu wiederholen, den
nächsten Preis zu gewinnen. Er glaubte offenbar, dies nur über Fälschungen zu
schaffen.
Wir kämpfen jetzt um unsere Glaubwürdigkeit, und natürlich sind wir wütend,
dass Relotius uns und die Leser so bitter enttäuscht hat. Aber wir sehen in
Claas Relotius nicht einen Feind, sondern einen von uns, der mental in Not
geraten ist und dann zu den falschen, grundfalschen Mitteln griff. Er hat auch
unser Mitgefühl.
Er hat betrogen, wir haben uns betrügen lassen, die Chefredaktion, die
zuständige Ressortleitung und Dokumentation. Wir waren immer stolz auf unser
System der vielen Absicherungen, dass die Texte von so vielen Augen gelesen
werden. Unsere Dokumentare sind die
Faktenchecker, die unsere
Texte überprüfen und Fehler ausmerzen sollen.
Heute wissen wir, dass dieses System lückenhaft ist. In den nächsten Wochen
und Monaten soll das Komitee diese Lücken finden und Vorschläge machen, wie wir
sie stopfen können. Ganz verhindern werden sich solche Betrugsfälle aber nicht
lassen, denn Verifikation darf nicht in Bespitzelung ausarten.
Relotius ist ein
Reporter, er hat vor allem Reportagen geschrieben. Dies ist eine besondere Form
des Journalismus, bei der es vor allem um Anschaulichkeit und Lebendigkeit
geht. Der Reporter ist dabei, schaut zu, hört zu, und schreibt dann auf, was er
gesehen und gehört hat. Er gibt dem Ganzen eine Dramaturgie und gießt es in
eine formvollendete Sprache.
So manch einer kann da
versucht sein, aus Journalismus Literatur zu machen, die in Fiktion mündet.
Reporter sind meistens alleine unterwegs, oft in fernen Ländern. Da ist es für
einen Dokumentar in der Zentrale nicht einfach, alle Fakten auf ihren
Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.
Die meisten Reporter
arbeiten absolut sauber, das muss hier noch einmal betont werden. Und dennoch
lohnt es sich, über die Form der Reportage und ihre Versuchungen noch einmal
nachzudenken. Ebenso wie über die vielen Journalistenpreise, die den Ehrgeiz
anstacheln, aber nicht immer in einer gesunden Form.
Wir fanden immer, dass zu
exzellentem Journalismus auch ein gewisses Maß an Freiheit gehört. Wir möchten
unsere Kollegen nicht auf Schritt und Tritt kontrollieren. Sie sollen sich auch
mal treiben lassen können, nur so entsteht Kreativität. Es darf aber auch nicht
zu kreativ werden.
Wir werden den Fall
Relotius in aller Demut aufarbeiten. Das sind wir Ihnen, unseren Lesern,
schuldig. Wir lieben unseren SPIEGEL, und es tut uns leid, dass wir ihm,
unserem guten, alten Freund, diese Krise nicht ersparen konnten.
Ihr Steffen Klusmann,
künftiger SPIEGEL-Chefredakteur
Ihr Dirk Kurbjuweit, stellvertretender SPIEGEL-Chefredakteur
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